Teilhabe durch Bildung ermöglichen
Die Stadt Leer ist mit Blick auf den Anteil der Sinti und Roma an der Gesamtbevölkerung ein Hot-Spot in Deutschland. Bei uns gibt es Schulen, auf denen teilweise über 20 Prozent der Kinder allein diesen ethnischen Hintergrund haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Sinti und Roma aus Konzentrationslagern nach Holland gewandert. Die meisten Städte haben damals das Lagern verboten. Leer war eine Ausnahme. Deshalb sind bis in die 60er-Jahre viele Sinti und Roma in die Stadt Leer gezogen. Entsprechend der Verhältnisse der Nachkriegszeit lebten sie oft von den jeweiligen Stadtverwaltungen ausgegrenzt in der Nähe von Schrottplätzen oder auf ehemaligen Müllhalden am Rande der Gesellschaft – bis in die späten 80er-Jahre.
Die Folge war, dass die meisten keine Schule besucht haben oder besuchen konnten. Eine lange Zeit wurde diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern lediglich der Schulbesuch auf der Sonderschule problemfrei gestattet.
Bildungschancen von Sinti und Roma verbessern
Es gibt deshalb sehr viele Erwachsene im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, die gar nicht oder nur sehr wenig lesen, schreiben und rechnen können. Das fehlende Wissen wiederum hat zur Folge, dass ihre Kinder und Kindeskinder daheim eine ganz andere Bildungsteilhabe haben. Sie haben keine Eltern und Großeltern, die ihnen etwas vorlesen könnten – ganz einfach, weil sie es nicht können. Lange gingen die meisten Kinder deshalb maximal auf die Sonderschule und hatten große Probleme neben der allgemein vorherrschenden Ablehnung mit unzureichender Bildung in einem Beruf Fuß zu fassen.
Die bisherigen staatlichen oder diakonischen Angebote haben die Menschen nicht erreicht. Unser Verein – in dem alle Ethnien vertreten sind – wollte hier etwas aufbrechen und die Bildungsbenachteiligung angehen. Zunächst haben wir uns dafür eingesetzt, den Sinti und Roma in Leer die Bedeutung von Bildung nahezubringen. Eines unserer wichtigsten Projekte bestand darin, Bildungsbegleiterinnen und Bildungsbegleiter auszubilden. Mithilfe der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft haben wir in eineinhalb Jahren 18 Frauen und Männer zu landesweit anerkannten pädagogischen Mitarbeitern qualifiziert. Viele von ihnen haben im Rahmen des Programms völlig neue Erfahrungen sammeln können. Die Gruppendynamik war unheimlich schön und es ist eine ganz tolle Truppe entstanden.
Bildungsbegleiter:innen sind fester Bestandteil an vielen Schulen
Am Ende des Programms standen Praktika in den unterschiedlichen Schulen in unserem Ausbildungsplan. So haben wir einen ganz besonderen Draht zu den Schulen aufgebaut. Inzwischen sind unsere Bildungsbegleiter:innen längst ein fester Bestandteil an vielen Schulen. In unseren Angeboten geht es oft um Demokratie, aber auch Themen wie Diskriminierung und Mobbing spielen eine wichtige Rolle. Mit unseren Ausstellungen über das Leben der Sinti nach 1945 sind wir im gesamten Bundesgebiet auf Wanderschaft gegangen.
Darüber hinaus haben wir schnell festgestellt, dass vielen Kindern die Präsenz unserer Mitarbeiter:innen im Schulbetrieb nicht genügt. Es geht vielmehr darum, auch die Familien einzubinden und den Mädchen und Jungen Angebote für ihre Freizeit zu machen. Inzwischen haben wir eine Art Rundum-Paket geschnürt. Dafür werden wir sowohl von den Sinti als auch von der Verwaltung und anderen sozialen Partnern in unserer Region sehr respektiert. Wir freuen uns, dass wir im Laufe der Jahre zu einer veränderten Wahrnehmung und einem veränderten Bild auf und seitens der Ethnien beitragen konnten.
Wir kümmern uns
Im Laufe der Corona-Pandemie mussten wir leider feststellen, dass viele Kinder Gefahr laufen, den Anschluss, den sie gerade gefunden hatten, wieder zu verlieren. Sie dürfen nicht mehr in die Schule gehen und zu Hause können ihnen die Eltern nicht helfen. Sie kommen deshalb viel schlechter mit dem Homeschooling zurecht als viele andere Kinder. Gott sei Dank vertrauen uns die Eltern inzwischen so weit, dass sie uns um Hilfe bitten. Wir hören oft Sätze wie „Da gehe ich mit meinem Kind zum Sinti-Büro. Die machen das schon“. Und so ist es auch: Wir kümmern uns. Zum Beispiel bekommen wir nahezu jeden Morgen um die 50 Whatsapp-Nachrichten. Die Kinder schicken uns die aktuellen Arbeitsblätter, damit wir diese für sie ausdrucken können.
„Dank der Förderung konnten wir uns endlich besser aufstellen“
In dieser Situation hat uns die Stiftung für Engagement und Ehrenamt extrem geholfen. Wir hatten in unserer Geschäftsstelle nur zwei halb kaputte Rechner und einen uralten Drucker. Dank der Förderung konnten wir uns endlich besser aufstellen. Außerdem hatten wir die Chance, alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Laptops und Tablets auszurüsten, sodass sie die Mädchen und Jungen nun optimal mobil begleiten können. Inzwischen schreiben ihnen die Kinder, auch wenn sie Fragen haben, sich aber nicht trauen, die Lehrkräfte zu kontaktieren.
Wir haben zwei Fachleute beschäftigen können, die uns eine längere Zeit im Umgang mit der neuen Technik geschult haben. Auch unsere internen Prozesse haben wir so professionalisiert. Ein neues Programm hilft uns zum Beispiel dabei, unsere Steuerunterlagen künftig digital zu bearbeiten. Alles kleine Schritte, aber insgesamt haben wir uns dadurch ganz schön weit bewegt.
1. Sinti-Verein Ostfriesland
Ingo Lindemann, Vorstandsmitglied
„Alles kleine Schritte, aber insgesamt haben wir uns dadurch ganz schön weit bewegt.“
Ingo Lindemann, Vorstandsmitglied 1. Sinti-Verein Ostfriesland