Zwischen Ladenlokal und Clubhouse
Die Pandemie stellt die politische Bildung vor ungeahnte Herausforderungen. Der Verein „Politik zum Anfassen“ ist nicht erst seit Corona für seine innovativen Formate bekannt und experimentiert mit ungewöhnlichen Digital-Angeboten. Ein Besuch.
Die abblätternde Schrift ist noch immer zu erkennen. „Obst- und Gemüseladen“ steht auf dem kleinen Vordach des Ladenlokals mit den einladenden Fenstern. Lebensmittel gibt es hier aber längst nicht mehr. Das ehemalige Geschäft nutzt jetzt der Verein „Politik zum Anfassen“ in Isernhagen, nördlich von Hannover. Der offene Raum im Erdgeschoss komplettiert seit vergangenem Jahr die friedliche Übernahme des unscheinbaren Wohnhauses durch den 2006 gegründeten Verein für politische Bildung. Vom Keller bis zum Dach werden nun alle Räume für die Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen genutzt.
Hinter der Glasfassade des Ladenlokals steht eine junge Frau vor einem Greenscreen und moderiert eine Spielshow, die an die Sendung „Schlag den Star“ von ProSieben erinnert. Die Kandidatinnen und Kandidaten sind über Bildschirme zugeschaltet. Durch die Scheibe dringt das Geräusch eingespielter Klatsch- und Buzzer-Geräusche. Das Online-Format ist ein Bildungsformat zur Bundestagswahl, das der Verein in der andauernden Corona-Pandemie ins Digitale übersetzt hat.
„In diesen Zeiten findet unsere Wanderausstellung, die sonst auf Wochenmärkten steht, eben als Online-Gameshow statt“, erklärt Gregor Dehmel, der neben seiner Frau Monika auf der Terrasse des Hauses Platz genommen hat. Die beiden lesen laut aus den Anfragen an den Verein vor, die in den letzten Tagen per E-Mail eingetroffen sind. Und das sind eine ganze Menge. So plant die Volkshochschule eine Veranstaltung zum Thema Wahlen, und der Landessportbund braucht Hilfe dabei, demokratische Werte in Sportvereinen zu vermitteln. „Jeder, der irgendwie etwas mit Demokratie machen und ein wenig mehr Professionalisierung will, ist bei uns richtig“, meint Co-Gründer Gregor Dehmel stolz. Das Ehepaar lacht viel und erzählt gerne von ihrer Arbeit, das „Herzensprojekt“ der beiden.
Fasziniert vom Mitbestimmen
Gemeinsam gründeten sie „Politik zum Anfassen“ zunächst als Hobby an ihrem Küchentisch. Sie studierten damals Psychologie mit Schwerpunkt Pädagogik und waren ehrenamtlich in der Politik tätig. Sie elf Jahre lang als Ortsbürgermeisterin in Altwarmbüchen und er als Mitglied im Rat der Landeshauptstadt Hannover. „Kommunalpolitik, also Politik vor Ort, bietet die Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln und gleichzeitig etwas für andere zu tun“, sagt Monika Dehmel. „Das ist ja das Geile an Kommunalpolitik. Du kannst direkt mitentscheiden, ob und wo ein Zebrastreifen gebaut werden soll“, so drückt es ihr Mann aus. Diese Faszination für politische Entscheidungen im Kleinen wollen sie mit ihren zahlreichen Projekten auch jungen Menschen vermitteln. Deren Bild von Politik sei oft von Berufspolitikerinnen und -politikern geprägt, von „denen da oben“, die sich in großen dunklen Autos herumfahren ließen, sagt Gregor Dehmel. Die allermeisten machten Politik aber ehrenamtlich. „Zum Anfassen ist Politik dann, wenn die Bürgermeisterin auf dem Fahrrad zum Termin mit Jugendlichen kommt und sich erstmal eine Zigarette anzündet“, findet Monika Dehmel.
Diese Art der politischen Partizipation wollen die beiden erfahrbar machen. Das tun sie schon lange nicht mehr alleine. Ihr Team zählt heute 34 Menschen, die Vollzeit in den unterschiedlichen Projekten arbeiten. Darunter sind zahlreiche Freiwilligendienstleistende, so wie Paul Stender. Der Hannoveraner hat im vergangenen Jahr Abitur gemacht und ist seit September 2020 im Verein tätig. „Ich hab hier einen Film geschnitten, der ist sogar bei YouTube zu sehen“, sagt er. Er sei überrascht gewesen, wie einfach die Medienarbeit zu erlernen war. Als Teamer ist er im Projekt „Next Step: Democracy“ tätig. Das bringt deutschlandweit junge Zugewanderte und Geflüchtete in einem Planspiel mit Menschen aus der Kommunalpolitik zusammen. In Bamberg, Bocholt oder Frankfurt am Main haben sie bereits Station gemacht. „Mir macht das Anleiten von Gruppen viel Spaß, und ich kann das auch“, sagt Stender selbstbewusst. Der junge Mann mit dem rot-braunen Bart steht dabei im Dachgeschoss des Hauses, dem „Olymp“. Jeder Raum hat hier einen Namen. Im ersten Stock gibt es die „Präsidenten-Suite“, neben der Tür ein Namensschild von Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräsident verlieh Monika und Gregor Dehmel 2018 für ihre Bildungsarbeit das Bundesverdienstkreuz.
Ausstattung für digitale Ideen
In jedem Zimmer des verwinkelten Hauses stehen Monitore und Computer, es gibt Tablets und Kameras – digitales Arbeiten ist hier Alltag. Einige Kolleginnen und Kollegen arbeiten aus dem Homeoffice in anderen Städten. Bei „Politik zum Anfassen“ ist klar: Bildungsarbeit geht auch digital. Für den Verein kam es gerade recht, dass die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt dezidiert Technikanschaffungen unterstützte. „Das war fast wie Weihnachten, als der Zuwendungsbescheid bei uns eintraf“, sagt Monika Dehmel. Von dem Förderprogramm konnten technische Geräte angeschafft werden, die sonst nur schwer begründbar sind. Für die Umstellung auf digitale Formate 2020 habe man viel Technik benötigt. Die zu finanzieren war durch die zeitgleich wegbrechenden Aufträge alles andere als einfach, so die Geschäftsführerin. „Das ist genau die richtige Unterstützung gewesen und hat mich sogar ein bisschen mit Corona versöhnt“, resümiert die 48-Jährige.
Heute produziert der Verein seinen eigenen Podcast, hat eine App zur Jugendbeteiligung entwickelt und sogar bei dem sozialen Netzwerk Clubhouse Gespräche mit Menschen aus der Kommunalpolitik geführt. „Ein Großteil dieser digitalen Angebote ist Hobby. Unser Brot- und-Butter-Projekt ist, dass wir 100 Kinder und Jugendliche mit Kommunalpolitikerinnen und -politikern in einen Raum stecken und ein Planspiel zur Kommunalpolitik durchführen“, sagt Gregor Dehmel. In etwa 60 Kommunen nehmen jedes Jahr mehr als 10.000 Schülerinnen und Schüler an „Pimp Your Town“ teil. Solange das nicht möglich ist, wird das digitale Angebot erweitert.
Als die Pandemie kam, waren die Dehmels geschockt davon, dass die Gemeinderatssitzungen einfach ausgesetzt wurden. Mit Kindern aus der fünften Klasse einer Gesamtschule in Isernhagen haben sie schließlich die erste politische Sitzung in der Gemeinde komplett digital durchgeführt. Bei dem Planspiel waren damals auch Gemeinderatsmitglieder anwesend, die sich bei den Kindern abgucken konnten, wie eine Online-Sitzung funktioniert. So wirkt „Politik zum Anfassen“ nicht nur bildend auf die jungen Menschen, sondern genauso auf Erwachsene.
„Das ist ja das Geile an Kommunalpolitik. Du kannst direkt mitentscheiden, ob und wo ein Zebrastreifen gebaut werden soll.“
Gregor Dehmel
Über die Organisation
Der Verein versteht sich als Event-Agentur für Wissen und positive Demokratie-Erfahrungen: Mit Planspielen, Filmen, Umfragen, Mitmachausstellungen und vielem mehr verbindet das Team politische Bildung mit Jugendbeteiligung, die Spaß macht: bundesweit für fast 10.000 Schülerinnen und Schülern im Jahr, schulformübergreifend.
Kontakt
Politik zum Anfassen e. V.
Königsberger Str. 18
30916 Isernhagen
Tel.: 0511 – 37 35 36 30
E-Mail: politik@zumanfassen.de